Digitale Veranstaltungsformate

Funktionieren Festivals als digitale Events?

Im Corona-Sommer 2020 fanden viele Festivals digital statt, die konkrete Umsetzung variierte jedoch. Am Beispiel des Tomorrowland „Around the World“ fragen wir: Funktionieren Festivals als digitales Event? Verändert dieses Format sogar die Zukunft von Events?

Digitale Festivals Tomorrowland 2020
Tomorrowland “Around the World” 2020 (Bild: Aleaxander Heber / Tomorrowland)

 

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Übersicht:

Tomorrowland „Around the World“ 2020
Produktion mit über 200 Beteiligten

Funktioniert ein Festival-Stream als Event?

Funktioniert ein Festival-Stream als Home-Entertainment?

Pro & Contra digitaler Festivals

Wie sieht das Festival der Zukunft aus?


Anfangs hat die Corona-Krise unser Leben – privat und beruflich – komplett lahmgelegt. Die neuen Herausforderungen führten zu vielen Veränderungen in unserer Lebenswelt. Allem voran steht wohl die Beschleunigung der Digitalisierung: Unternehmen erkannten, dass viele Meetings durch Chats oder Videokonferenzen ersetzbar sind und Angestellte auch von Zuhause aus gute Arbeit leisten. Produktvorstellungen finden per Livestream statt und Softwareanbieter liefern umfassende Online-Konferenz-Angebote. Teile der Industrie, der Bildung und der Wirtschaft in die digitale Welt zu verschieben, funktioniert also schon ganz gut und der Traum vom Leben als Digitalnomade rückt für manch Angestellten in greifbare Nähe.

Viel schwieriger wird es jedoch, wenn es nicht darum geht, Wissen und Informationen zu übermitteln – sondern Emotionen. Wir kaufen schließlich keine Konzerttickets, weil wir nur mal wieder Musik hören wollen. Der Technoclub wird nicht besucht, weil der Gin Tonic dort so günstig ist; und niemand geht nur deswegen in die Kneipe, weil dort die Luft besonders gut ist. Der Mensch will tanzen, lachen, genießen, überwältigt werden, Neues entdecken und erleben.

Es geht darum, gemeinsam Momente zu erleben und durch die geteilte Liebe für eine Sache zum Teil einer Gemeinschaft zu werden. Diesen Aspekt des Lebens zu digitalisieren und zu einer immersiven Erfahrung zu machen, ist anspruchsvoller als die bloße Vermittlung von Informationen.

Auf Anhieb hat niemand eine Antwort auf die Frage, wie komplexe Erlebnisse – wie zum Beispiel ein Festivalbesuch – auch nur ansatzweise in die digitale Welt umziehen können. Versucht wurde es diesen Sommer trotzdem und die Lösungsansätze und Ergebnisse variieren dabei von Festival zu Festival. Am Beispiel des Tomorrowland „Around the World“ wollen wir aus der Perspektive von verschiedenen Dienstleistern, aber auch aus Teilnehmersicht auf das experimentelle Veranstaltungsformat blicken.

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Tomorrowland „Around the World“ 2020

Die Organisatoren des Tomorrowland haben eigens für das digitale Festival eine Insel namens „Pāpiliōnem“ designt. Im Vorfeld war von einem echten Spielgefühl die Rede. Man könne die Insel interaktiv mit Freunden erkunden. Zusätzlich werden beeindruckende Zahlen berichtet: 280.000 digitale Festivalbesucher mit eigenen Attributen (wie Flaggen oder Lichter) tanzen vor den Bühnen. Die Festivalumgebung hat 10-mal mehr Polygone als moderne Computerspiele, jede Bühne hat 16 km² Fläche und 32.000 Bäume und Pflanzen. Pro Bühne gibt es über 750 von Hand gesetzte Lampen. Der Regisseur kann auf sechs 4K-Kameras pro Bühne zugreifen und hat dank virtueller Kameras bis zu 38 Kamerasignale auf der Mainstage zur Auswahl. Und all das erleben wir im Browser – Wow!

Wenngleich die Zahlen faktisch korrekt sein mögen, so schwingt doch sehr viel Marketingtalk in dieser Präsentation mit. Die Insel stellt sich im Browser auf allen möglichen Endgeräten als dreidimensionale Welt dar, auf der man zu verschiedenen Bühnen navigieren kann. Einmal auf der Bühne angekommen, ist die Navigation dann aber nicht mehr möglich und man wird Zuschauer einer fertig gerenderten Performance – man schaut ein Video als Stream.

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Produktion mit über 200 Beteiligten

Der Produktionsablauf besteht grob aus drei Teilen: Im Mittelpunkt steht der Entwurf der 3D-Umgebung des Festivals – sprich: das Design der acht Bühnen, der Landschaft, des Publikums und der besonderen Bereiche rings um das Festivalgelände. Dann war es notwendig, die Auftritte der Acts in 3D-Green-Screen-Studios aufzunehmen. Für diesen Produktionspart war es bereits möglich, die Bühnen live in einem reduzierten Rendering zu betrachten und so konnte den Acts auch während der Aufnahme ein Gefühl für die eigentliche Bühnensituation vermittelt werden. Vier dieser Green-Screen-Studios wurden weltweit eingerichtet. Zuletzt galt es, die animierte 3D-Welt mit den Aufnahmen aus den Studios zu verschmelzen. Die Unreal Engine von Epic Games spielte hier eine zentrale Rolle, aber auch Depence als Visualisierungssoftware für Licht, Laser, Visuals und andere Effekte kam zum Einsatz. Es mussten neue API und Plugins geschrieben werden, um die einzelnen Elemente zusammenzuführen. Licht wurde mit Lichtpulten programmiert und die DMX-Daten in die Software eingelesen. Sounddesigner verliehen dem Publikum noch Leben mit eingespieltem Jubel, Applaus und Singalongs.

Digitale Festivals Tomorrowland 2020
In der Vogelperspektive überfliegt man die Insel zu einzelnen Bühnen und Entertainmentstationen, man fühlt sich an Karten aus Computerspielen erinnert (Bild: Alexander Heber / Tomorrowland)

All das entstand vom Planungsbeginn bis zur Show innerhalb von drei Monaten. Das ist äußerst beeindruckend, und die Crew aus über 200 Beteiligten kann zurecht Stolz auf dieses Projekt sein. Hiervon unabhängig stellen sich nun aber einige Fragen:

Funktioniert ein Festival-Stream als Event?

Das digitale Tomorrowland-Festival war nicht nur für Privatbesucher erreichbar, sondern es gab darüber hinaus eine B2B-Kooperation, welche es Clubs ermöglichte, das Event zu übertragen und in eine Art Satellitenparty zu verwandeln, gegen Bezahlung natürlich. Wie so eine Satellitenveranstaltung aussehen kann, haben wir uns im A7 in Berlin angeschaut.

Der Club sieht sich, wie alle anderen Clubs auch, mit der großen Herausforderung konfrontiert, im Rahmen der nun einzuhaltenden Auflagen brauchbare Veranstaltungskonzepte zu entwickeln. Der Club verfügt über ein Außengelände, in dem die Leute entspannt sitzen, Drinks genießen und Burger bestellen können. Der Stream läuft auf einer gut aufgelösten LED-Wand. Hin und wieder hüpfen neugierige Köpfe hinter dem Zaun hervor, denn der Bass drückt und die LED-Wand ist auch von draußen zu sehen. Die Gäste interessieren sich mal mehr und mal weniger für das Geschehen auf dem Screen, aber man findet doch an jedem Tisch Köpfe im Takt nicken. Die Stimmung ist gut, hat aber nichts mit Festivalstimmung zu tun. Hier wird der Wunsch nach Gesellschaft und draußen sein befriedigt. Dieses Konzept scheint dahingehend also aufzugehen. Das nette Beisammensein unter freiem Himmel funktioniert jedoch nur mit einer LED-Wand. Eine Projektion käme noch nicht gegen die letzten Sonnenstrahlen an. Auch mit dem etwas fragwürdigen YouTube-Video zur perfekten Einstellung des Projektors, welches vom Tomorrowland bereitgestellt wurde, wird das nichts mit einer Projektion. Die Veranstaltung müsste später beginnen und das würde den Umsatz schmälern, der durch limitierte Gästezahlen ohnehin schon kleiner ausfällt. Biergartenfeeling mit Tomorrowland-Touch funktioniert also, ist jedoch nicht für jeden Club realisierbar.

Im Inneren des Clubs wird das Event ebenfalls übertragen. Die Gäste sitzen in getrennten Sitzgruppen. Die Musik ist hier deutlich lauter und der Bass will den Körper zum Tanzen anschieben. Die Stimmung ist permanent an der Schwelle zur Party: Die Gäste beginnen sich mehr und mehr in ihren Sitzen zu bewegen, die ersten stehen auf und beginnen in ihrer „Booth“ zu tanzen bis die Angestellten des Clubs dem Treiben wieder Einhalt gebieten müssen, um in den rechtlichen Rahmenbedingungen zu bleiben. Die Stimmung ist dennoch gut, die Gäste sind froh, wieder Partyluft schnuppern zu können – wenigstens ein bisschen. Dieses Feeling kann bei diesem Stream aber wieder nur aufkommen, da der Club auch indoor gut ausgestattet ist. Man könnte vielleicht schon von Übertreibung sprechen: Drei Wände des Clubs bestehen praktisch aus LED-Wand – und an der Decke setzt es sich fort. Der Raum ist in ein eigenes Tomorrowland-Design getaucht und die Streams laufen als PiP an der Wand, vor der sonst der DJ stünde. Gelegentlich weicht das Design eigenen Visuals und die Movingheads machen ohnehin immer mit. Es wird also viel gegen Monotonie und Langeweile getan. In dieser Umgebung fühlt sich der Stream tatsächlich fast so an, als wäre jetzt ein DJ im Club. Doch immer im Moment, wenn der Stream zur Party werden könnte, muss die Stimmung gedrosselt werden. In Zeiten nach Corona-Auflagen in Verbindung mit Tanzverboten könnte das jedoch erfolgsversprechend sein.

Digitale Festivals Tomorrowland 2020
Festival-Stream als Satellitenparty Im Berliner A7 werden alle technischen Mittel zur Untermalung des Streams ausgeschöpft, der Stream hat das Potential, mitreißend zu werden (Bild: Aleaxander Heber)

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Funktioniert ein Festival-Stream als Home-Entertainment?

Die Satellitenparty ist nur ein Weg, ein digitales Festival zu erleben. Vermutlich ist es auch die Ausnahme, denn man findet diese Events kaum mit einer Google-Suche. Da kaum ein klassischer Festivalbesucher allein anreist, liegt es nahe, auch die Streams nicht allein zu schauen. Der Stream wird Anlass, sich wieder in der alten Festivalrunde zusammenzufinden, gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen, den Grill anzuwerfen und einfach ein oder zwei schöne Abende zu verbringen. Vermutlich vielfach so stattgefunden, doch auch in diesem Fall bleibt man abgekapselt in einer eigenen Blase und wird nicht Teil der größeren Idee. Die Ankündigungen der Tomorrowland-Betreiber im Vorfeld des Festivalwochenendes erweckten den Eindruck, dass ein interaktives Live-Event der Superlative auf die Teilnehmer wartet. In einer Pressekonferenz mit den Künstlern im Vorfeld des Events ließ sich Main Act Dimitri Vegas zu der Aussage hinreißen, dass „Crowd Control“ auf das nächste Level gepusht werde. Da war die Hoffnung, man könne das Festival wirklich interaktiv erleben, noch groß.

Pāpiliōnem, die digitale Welt um das Tomorrowland 2020, bot allerdings nur wenige Ansätze für eine echte Interaktion. Es gab ein kleines Minispiel, bei dem man sich durch eine Bibliothek bewegen konnte, um darin zehn Bücher mit jeweils einer Frage zur Festivalgeschichte zu finden. Die Bibliothek sah zwar nett aus, aber selbst Flash Games aus den 2000er Jahren konnten schon mehr Spaß machen als die recht langweilige Suche nach Büchern für ein 10-Fragen-Trivia. Vielleicht ist es zu kurzsichtig gedacht, aber wenn man schon mit Epic Games zusammenarbeitet, dann hätte doch wenigstens ein Spiel mit Bestenliste herausspringen können. Vielleicht hätte man gegen die Zeltnachbarn der letzten Festivalsaison antreten können?

Eine andere Möglichkeit zur Interaktion war eine Grußtafel, an die eine Botschaft gesendet werden konnte, die man im Falle einer Freigabe später hätte suchen und finden können. Zudem gab es einen Hashtag für Instagram und mit etwas Glück, und dem Segen der Moderatoren, landete das eigene Bild irgendwo in der Flut aus Sponsorenbildern an der Social Media Wall. Das war weit weg von einem Festivalgefühl und hat nichts mit Interaktion zu tun. Das Event an sich blieb unbeweglich und Gäste konnten nicht miteinander interagieren.

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Pro & Contra digitaler Festivals

Es wird nicht viele gestört haben, aber die große Revolution der Online-Events hat hier nicht stattgefunden – zumindest nicht in der Form, in der das Gefühl echter Teilnahme für die Zuschauer entstehen konnte. Doch der digitale Charakter hat auch gute Seiten: Kein Besucher muss auf überfüllte Urlaubszüge warten oder an Duschkabinen anstehen. Niemand verliert das Zelt an einen Sturm oder den Führerschein bei der Alkoholkontrolle kurz nach der Festivalausfahrt. Günstiger ist es auch: das Tagesticket gab es für 12,50 € und für 20 € erhielt man Zugang für beide Tage. Eine Festivalsimulation im eigenen Garten kann auch für einen Generationenaustausch sorgen, schließlich können Oma und Opa jetzt auch dabei sein und die Kinder können die Beats lieben lernen. Wenn die Kids von heute alt genug für den Besuch des Tomorrowland sind, sind die verrückten Bühnen des Tomorrowland „Around the World“ vielleicht auch keine Zukunftsmusik mehr?

Als Entertainment für Freunde und Familie taugt das Festivalkonzept aus diesem Jahr nur bedingt. Es hat eher das Potenzial, Anlass für ein Treffen und einen gemeinsamen Abend zu sein und das auch nur, weil man das Festival mit den vergangenen, realen Festivalerfahrungen verbinden kann. Es gibt schlichtweg keinen Mehrwert für Erstbesucher in dieser digitalen Variante. Die kurzen Kochshow-Videos, die Inspirationsvideos von berühmten Persönlichkeiten und die Getränkekarte mit Ideen für sommerliche Drinks, die man auf der Insel finden konnte, ändern daran nichts.

Fast schon traurig fühlt sich der Festivalbesuch an, wenn man ganz allein auf den Bildschirm schaut. Die Insel ist schnell erkundet und man ist beschränkt darauf, Texte zu lesen oder Videos zu schauen. Natürlich kann ein Webbrowser keine Multiplayer-Festival-Simulation abliefern. Es geht dennoch viel zu schnell und der Browser wird mit der subjektiv besten Bühne minimiert und der Stream verkommt zum Radio mit unnötig hoher Bandbreite.

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Wie sieht das Festival der Zukunft aus?

Das Tomorrowland „Around the World“ hat nie den Anspruch erhoben, das Festival der Zukunft zu sein. Das Marketing hat dennoch viel versprochen und die Erwartungen in die Höhe getrieben. Die digitale Interpretation des Festivals ist trotzdem ein interessanter Blick in die Zukunft: Es ist spannend zu sehen, wie sich Designer und Techniker ein Festival vorstellen, welches sich nicht an aktuelle technische Grenzen und Budgets halten muss. Das digitale Publikum hält Lampen in den Händen, welche Teil der Lichtshow werden, Bühnen erreichen die Größe des Kölner Doms und szenische Fahrten trotzen jeder statischen Berechnung. Jeder Winkel des Geländes ist dekoriert und Teil der Inszenierung. Alles was wir erdenken können, können wir auch sehen.

Digitale Festivals Tomorrowland 2020
Core Bühne Die Blütenblätter verändern unter dem Jubel des digitalen Publikums ihre Position – evtl. ein Ausblick auf künftige Bühnen der Superlative? (Bild: Alexander Heber / Tomorrowland)

Der Mehrwert entsteht, wenn wir aus der gewonnenen Planungsfreiheit neue Ideen gewinnen können. Werden Handys von Besuchern per App vielleicht tatsächlich zu steuerbaren Lampen? Sind die verrückten Bühnenentwürfe vielleicht Inspiration für Ingenieurbüros, neue Möglichkeiten zu entwickeln? Werden wir in Zukunft noch mehr im „What You See Is What You Get“-Stil planen und vorbereiten (müssen)? Die ohnehin fortschreitende Verschmelzung zwischen IT und Veranstaltungstechnik bekommt durch „Festival Concept Art“ wie das „Around the World“ 2020 weitere Relevanz.

Alle Festivalstreams 2020 sollen an die eigentlichen Festivals erinnern und Vorfreude auf die Zeit nach Corona machen. Gleichzeitig zwingen sie eine ganze Industrie zum Um- und Neudenken. Eine ernstzunehmende neue Form des Entertainments oder eine fühlbare Simulation eines realen Festivals ist dabei (bisher) noch nicht entstanden. Unmöglich ist es aber nicht. Epic Games gibt z. B. mit den Fortnite-Live-Konzerten einen greifbareren Ansatz, welche Möglichkeiten darauf warten, ausgeschöpft zu werden. Wenn die Vermischung aus Event- und Spielebranche so weiter geht, werden wir dem wirklich interaktiven Live-Event rasch näherkommen.

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